Manfred Albersmann

 

Die Eisenbahnlinie Kempen – Kaldenkirchen

Vorgeschichte

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts führte die Erfindung der Eisenbahn zu Möglichkeiten, die man sich in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Die „eiserne Bahn“ überbrückte Zeit und Raum und belebte das Wirtschafts- und Verkehrsleben, das bisher im beschaulichen Tempo der von Pferd und Wagen beherrschten Epochen verlaufen war.

In Deutschland hatte man sich zwar auch schon seit geraumer Zeit Gedanken über die Eisenbahn gemacht. Aber dieses „Deutschland“ gab es eigentlich gar nicht. Deutschland war zerrissen in fast vierzig Staaten, Länder und Ländchen, die auf ihre „Souveränität“ pochten. Es gab keine einheitliche Währung, keine einheitlichen Maße und Gewichte. So rechnete man z. B. im Norden mit Mark und Schilling, in Preußen und in Mitteldeutschland mit Taler und Groschen, in Süddeutschland mit Gulden und Kreuzern, aber daneben gab es noch alle möglichen anderen Währungen. Eine Meile maß in Bayern 7.420,4 Meter, in Württemberg 7.448,70 m in Sachen 7.500 m und in Preußen 7.532,5 m.

Darüber hinaus gab es Zollschranken: wer von Hamburg nach Wien reiste, musste ein gutes Dutzend dieser Barrieren bewältigen. Jedes Land hatte seine eigene Zeit; zwischen Köln und Königsberg bestand die Differenz von rund einer Stunde, größere Städte hatten gar ihre eigene Ortszeit und nicht zuletzt: Ansätze zu einer industriellen Entwicklung, die während der Ausschaltung Englands durch Napoleons Kontinentalsperre in den Jahren nach 1806 begann, wurden durch die hereinströmenden englischen Waren gelähmt. Die Voraussetzungen für die Eisenbahn waren also in Deutschland denkbar ungünstig.

Dennoch, die Gesamtsituation in Deutschland beginnt sich zu verändern. Im Jahre 1832 entsteht zwischen den Königreichen Bayern und Württemberg ein Zollverein, und der Zusammenschluss eines großen Teils des Deutschen Bundes zum Zollverein – der dann 1834 erfolgte – lang schon in der Luft. So kam es am 14.5.1833 zur Gründung einer Gesellschaft für die Errichtung einer Eisenbahn mit Dampffahrt zwischen Nürnberg und Fürth, was letztlich zum Bau der ersten Eisenbahnlinie in Deutschland im Dezember 1835 führte.

Der Grund für den Bau dieser Eisenbahnlinie war jedoch weiniger die Notwendigkeit des Ausbaus des Gütertransportes als vielmehr die der Personenbeförderung. Die erste Eisenbahnlinie konnte sich auch nur als Aktiengesellschaft behaupten, da hier ein Erfolg durch die hohe Frequentation dieser Strecke gewiss war. Jedoch war diese als Aktiengesellschaft gegründete Eisenbahnstrecke ein solcher finanzieller Erfolg, so dass sie in kürzester Zeit vielfache Nachahmung fand. Noch im selben Jahr wurden weitere, längere Strecken eröffnet, die auch alle als Aktiengesellschaften unglaubliche Erfolge hatten. Mit einer Rendite von bis zu 20 % und enormen Zinsgewinnen wurden diese Aktiengesellschaften mit zu den größten Spekulationsgeschäften des 19. Jahrhunderts. Diese ersten Eisenbahnstrecken, die bis zum Jahr 1840 nicht mehr als 460 Streckenkilometern ausmachten, bedeuteten, da sich mit ihnen die aufregenden Aktien- und Dividendensteigerungen wiederholten, die Initialzündung für die zahlreichen, nachfolgenden Bauprojekte, die in kürzester Zeit ein wahres Eisenbahnfieber hervorriefen (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2, S. 617).

Die Aktiengesellschaften dominierten also bei der Errichtung von Eisenbahnstrecken. In diesen Gesellschaften fanden sich Bankiers, Fabrikanten, Händler und Großunternehmer zusammen. Ihnen ging es nicht nur um den unmittelbaren Profit in Form von Dividenden. Die Rentabilität einer Linie erfüllt sich für sie auch dadurch, dass die ansässigen Handelsbetriebe, Manufakturen und entstehenden Fabriken, die ihnen gehörten, oder an denen sie beteiligt waren, durch den Anschluss an das neue Transportsystem bessere Produktions- und Absatzbedingungen bekamen und die Gefahr der Umgehung „ihrer“ Städte vermieden werden konnte.

Bei vielen Regierungen verursachte dies zwangsläufig ein starkes Misstrauen gegenüber der neuen Unternehmungsform der Aktiengesellschaft. Man befürchtete, aus dieser schwer zu kontrollierenden Assoziation des Kapitals könne Macht und Einfluss des Besitzbürgertums zu einer Art Nebenregiment im Staate erwachsen.

Der Staat war jedoch auch in mehrerer Art und Weise mit dem Eisenbahnbau verbunden. Einerseits mussten für den Bau einer Strecke als auch für die Gründung einer Aktiengesellschaft Konzessionen eingeholt werden, andererseits war der Staat oftmals vor die Frage gestellt, ob er sich an der Bahn durch Zeichnung eines Teils der Aktien beteiligen sollte, oder sie gar als „Staatsbahn“ selber begründen sollte. In Preußen kam eine gesetzliche Regelung dieser Probleme erst sehr spät. Mit dem am 3.11.1838 erlassenen preußischen Eisenbahngesetz ( Gesetz über die Eisenbahnunternehmungen) legalisierte der Staat sein Interesse an einem eigenen Eisenbahnnetz. Insbesondere das Einspruchsrecht des Staates hinsichtlich der Linienführung und das Recht des Staates zum Erwerb der konzessionierten Privatbahnen gegen Entschädigung nach 30 Jahren zeigen die Einflussnahme des Staates auf das Eisenbahnwesen zu Beginn der Industrialisierung.

                   
                                         Dass deutsche Eisenbahnnetz 1849

 

Die Eisenbahnarbeiter – Existenz am Rande

In vielen Darstellungen werden über den vielen technischen, wirtschaftlichen und politischen Fakten diejenigen, welche die Linien im eigentlichen Sinne „gebaut“ haben, oft übersehen. Der arbeitsintensive und eine hohe körperliche Anstrengung erfordernde Eisenbahnbau bot sicherlich vielen durch den raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in ihrer Existenz bedrohten Menschen eine vorübergehende Beschäftigung. Es waren dies oft Taglöhner, Dienstboten, Landarbeiter oder nicht mehr konkurrenzfähige Handwerker. Am Niederrhein verdingten sich insbesondere viele der Massenarmut anheimgefallenen Spinner und Weber beim Eisenbahnbau. Sie blieben zunächst in ihren Dörfern wohnen und nahmen z. T. auch weitere Entfernungen zur Baustelle in Kauf.

Die Tätigkeiten der Eisenbahnarbeiter waren äußerst mühselig und kräftezehrend. Einzelne Arbeitsschritte wurden erst im Verlauf des Jahrhunderts mit Maschinen durchgeführt, anfangs überwog die Handarbeit. Beim Unterbau galt es zunächst, mit einfachsten Geräten wie Pickeln, Hacken und Schaufeln die Erdformationen auf der geplanten Trasse abzulösen.

Das Untergraben von Böschungen zur schnelleren Erdgewinnung war offiziell verboten, aber unter dem Diktat der Zeit dennoch praktiziert, führt es öfter zu Erdeinstürzen, bei denen Arbeiter zuweilen schwer verletzt wurden. Auch Felssprengungen verursachten manches Unglück. Für Durchstiche und Dämme mussten mit Schubkarren, Trollwägen und Fuhrwerken gewaltige Erdmassen über weite Strecken bewegt werden. Der Bahndamm wurde schichtenweise aufgeschüttet und sorgfältig eingestampft, damit er sich gleichmäßig setzte. Zum Oberbau gehörte die Schaffung des Schienenbetts, das Legen der hölzernen Querschwellen und die Befestigung der Schienen.

Erste Planungen einer Eisenbahnverbindung mit Holland 

Bereits im Jahre 1843, als erste Pläne für eine grenzüberschreitende Eisenbahnverbindung von Köln nach Amsterdam bekannt wurden, begannen "Cöln-Crefelder-Eisenbahn-Comitee" sowie die Städte Kleve, Nijmegen und Hertogenbosch sich um eine linksrheinische Verbindung zwischen Preußen und den Niederlanden zu bemühen.

Einen Ausschluss des unteren Niederrheins lag nicht in der Absicht des „Cöln-Crefelder-Eisenbahn-Comitees“, zumal eine Verbindung mit Holland für den Welthandel mit Köln und Rotterdam und mit London zu wichtig war. Die Verbindung mit Holland nördlich von Krefeld sollte zunächst über zwei Linien hergestellt werden, durch eine Trasse von Krefeld über Kempen nach Venlo und eine zweite von Krefeld über Kempen nach GeldernKleveNijmegen nach Venlo.

Kempen hatte damit berechtigte Aussichten, Eisenbahnknotenpunkt zu werden. Die Linie über Kleve sollte den Niederrhein bis in die äußerste Nordspitze und in fast gleicher Entfernung zwischen Rhein und Maas erschließen. Die Gemeinden zwischen Krefeld und Kleve waren 1846 auf einer Versammlung in Krefeld zusammengekommen und richteten am 17.3.1846 eine Eingabe an das Finanzministerium in Berlin, um die landesherrliche Genehmigung für den Bau einer Eisenbahn Köln – Neuss – Krefeld – Kempen – Geldern – Kleve mit Anschluss nach Nijmegen in Holland zu erhalten und eine zweite Hollandverbindung von Kempen nach Venlo zu bauen. Bereits am 5.4.1846 kam aus Berlin die Antwort, dass über das Projekt vorerst noch nicht entschieden werde.

Vermutlich aus überwiegend strategischen Erwägungen lehnte die Preußische Regierung den Bau der Eisenbahn westlich des Rheins ab. Damit waren die ersten Vorstöße fehlgeschlagen. Dessen ungeachtet begann man in den folgenden Jahren vorbeugend mit der Vermessung einer Strecke Krefeld – Kleve, und auch im Süden – zwischen Köln und Krefeld, begannen erste Vorarbeiten. In Köln gab es jedoch unterschiedliche Meinungen über die künftige Linienführung. Einige Komiteemitglieder wollten die Bahn über Neuss nach Krefeld, andere bevorzugten eine Verbindung nach Holland über Gladbach und Venlo. Letztlich wurden jedoch alle Anträge auf Gründung einer Eisenbahngesellschaft vom preußischen Handelsministerium abgelehnt.

Die politischen Wirren des folgenden Jahres taten ein Übriges, die Planungen in den Amtsstuben ruhen zu lassen. 

Die ersten Eisenbahnen am Niederrhein

Im Jahre 1843 erhielt die Cöln-Mindener Eisenbahngesellschaft von der preußischen Regierung die Genehmigung zum Bau einer Eisenbahn von Köln über Duisburg nach Minden.
In den Jahren 1846/47 erhielten Duisburg und Oberhausen an der Strecke Köln – Minden ihren ersten Anschluss an das deutsche Eisenbahnnetz.

Eine Zweigbahn von Oberhausen nach Ruhrort war bereits im Bauplan der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft vorgesehen, um als Ergänzung zur Ruhrschifffahrt die Kohle zum Rhein zu transportieren. Als Ruhrort die finanziellen Bedingungen der Eisenbahngesellschaft nicht erfüllen konnte, sprangen die örtlichen Handelskammern und einige Gewerbebetriebe ein, indem sie zunächst unentgeltliche Kokslieferungen zusagten. So erhielt die Gemeinde 1847 doch noch ihren Bahnanschluss.

Duisburg ließen die linksrheinischen Eisenbahnpläne nicht ruhen. Die Stadt warb in Krefeld und Uerdingen eifrig darum, Ausgangspunkt einer neuen Bahn zu werden. Duisburg war jedoch kein Erfolg beschieden. Ruhrort seinerseits konnte seine bisherige Stellung im Verkehr über Rhein und Ruhr noch zusätzlich stärken. Damit waren letztlich die Voraussetzungen an das sich ausbreitende rechtsrheinische Eisenbahnnetz gegeben.

Ruhrort gegenüber - in Homberg, war man ebenfalls sehr rege. Im März 1844 vereinbarten die Städte Krefeld und Ruhrort sowie die Kreise Gladbach, Kempen und Geldern die Gründung der Ruhrort-Krefeld-Kreis Gladbacher Eisenbahngesellschaft (RCKGE). Der Streckenverlauf der geplanten Eisenbahn steht bis auf einige Details von Beginn an fest: Es soll eine Bahn von Uerdingen nach Viersen in gerader Richtung erbaut werden. (Der Wunsch der Süchtelner nach Anschluss an diese Strecke wird im Februar 1847 abschlägig beschieden.)

Alle kreisangehörigen Gemeinden wurden aufgefordert, ihren Transportbedarf zu melden. So hatte z.B. die Gemeinde Lobberich ihren jährlichen Transportbedarf auf 1.100 Raummetern (= 20.000 Scheffel) Steinkohle, 1.210 Raummeter Kalk, 71,5 Raummeter (= 1.300 Scheffel) Mergel, 660 Raummeter (= 12.000 Scheffel) Salz – zu beziehen aus Venlo -, 500 Raummeter (= 10.000 Scheffel) Bauholz – zu erwerben aus der näheren Umgebung – und 880 Raummeter (= 16.000 Scheffel) Eisen – zu beziehen aus Oberhausen, Gemünd bei Düren und dem Bergischen Land – veranschlagt und der Eisenbahngesellschaft mitgeteilt.

Die Vermessungsarbeiten in Viersen beginnen Anfang 1847.

Bei Baubeginn der Eisenbahnstrecke von Homberg über Krefeld nach Mönchengladbach zeigten sich zum ersten Mal die Schwierigkeiten, die sich beim Bau des neuen Verkehrsmittels in den nächsten Jahrzehnten in vielen Gemeinden und Städten des Niederrheins ergaben:

In den von der Eisenbahnlinie berührten Landstrichen gab es unter der Bevölkerung eine lebhafte Diskussion. Während viele Menschen darin den Anbruch einer neuen Zeit sahen und für ihren Ort einen Bahnanschluss forderten, erhoben vor allem Bauern Einspruch gegen die Durchschneidung ihrer Felder und verlangten zumindest genügend Übergänge für ihre Fuhrwerke. Es kam oft zu langen und schwierigen Verhandlungen mit den Eigentümern, die entweder nicht verkaufen wollten oder eine Chance sahen, durch überhöhte Preise schnell reich zu werden. Nicht gerade selten beschwerten sich die Bahngesellschaften bei den Ordnungsbehörden, weil aufgestellte Richtungspfähle ausgerissen und versetzt worden waren. Obwohl die Düsseldorfer Provinzregierung die Anwendung von Zwangsenteignungen zuließ, kamen die Arbeiten oft nur schleppend voran. Die Bahngesellschaften versuchten die Gemüter schließlich auch damit zu beruhigen, indem Erdarbeiten und Holzlieferungen öffentlich ausgeschrieben wurden und viele Arbeitslose beim Bahnbau Beschäftigung fanden.

So bietet die RCKGE der Gemeinde Viersen an, die Erdarbeiten in der Gemeinde Viersen in der ganzen Strecke bis einschließlich dem dortigen Bahnhof sofort in Verding zu geben, wenn die Eigenthümer sich zur Abtretung des erforderlichen Terrains bereit erklären (StaV, Viersen 1848).

Inzwischen schrieb man das Jahr 1848. Seit Mitte der 40iger Jahre hatte sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Menschen drastisch verschlechtert. Allein im Krefelder Raum mussten 3.000 von 8.000 Webstühlen stillgelegt werden und 16.000 Menschen wurden arbeitslos. Auch in anderen Städten des Kreises waren hohe Arbeitslosenzahlen, insbesondere in der Textilindustrie zu verzeichnen. In Lobberich leitete die bekannte Firma Heithausen ihren Konkurs ein, was von der „Arbeitslosigkeit der Weber und der unerschwinglichen Teuerung begleitet war“.

Um die Notlage der beschäftigungslosen Handweber zu dämpfen, wurden öffentliche Notstandsarbeiten ausgeschrieben. Berlin überwies 175.000 Taler als Darlehn für Kaufleute und Fabrikanten, um im Regierungsbezirk Düsseldorf die Beschäftigung zu beleben.
Einzelne Fabrikanten ließen Lebensmittel wie Brot, Kartoffel und Hülsenfrüchte zu billigeren Preisen für ihre Arbeitnehmer kommen. Geringe Löhne und unmenschliche Arbeitsbedingungen gerade auch auf den Eisenbahnbaustellen hatten schon früher in anderen Teilen Deutschlands zu Unruhen und Streiks geführt. Nun war der politische Funke von Frankreich kommend auf ganz Deutschland übergeschlagen. Im März brach in Berlin die Revolution offen aus.

Die Bauarbeiten an der Eisenbahnlinie gingen offensichtlich schleppend voran. Gleich zu Beginn verzögern sie sich durch den vergleichsweise einfachen Umstand, dass in Viersen keine Handkarren zu beschaffen sind und diese bei der Bahngesellschaft geliehen werden müssen. Um den engen Kostenrahmen nicht zu sprengen, beschäftigt die Gemeinde weniger Tagelöhner, als es für den raschen Fortschritt der Arbeiten nötig gewesen wäre. Als im Dezember Frost einsetzt, stocken die Arbeiten ganz. Die Direktion muss am 2.2.1849 damit drohen, die Arbeiten auf Kosten der Gemeinde zu Ende zu bringen. Der Gemeinde bleibt nun nichts anderes übrig, als im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die restlichen Arbeiten öffentlich auszuschreiben. Der Unternehmer Heinrich Holzhausen übernimmt den Subunternehmer-Auftrag. Während der dann forcierten Bauarbeiten werden einige wichtige Änderungen von der Bauleitung verlangt (ungenügende Höhe des Bahndamms). Die dadurch verursachten Mehrkosten und der Streit um deren Bezahlung verzögern die Bauarbeiten erneut. Doch endlich ist es dann soweit: Am 5. Oktober 1849 kann die offizielle Eröffnung der Teilstrecke Homberg – Viersen gefeiert werden.

 

Die Viersen – Venloer Eisenbahnstrecke

Bei keiner anderen Bahnverbindung ist das Bemühen einzelner Gebietskörperschaften, einander zu blockieren, so ausführlich belegbar, wie bei der Verbindung mit dem holländischen Eisenbahnnetz bei Venlo.

Am Niederrhein hoffen nämlich die großen Städte Krefeld, Viersen und Dülken, aber auch kleine Gemeinden wie Kempen, Süchteln, Lobberich, Grefrath, Boisheim, Breyell, Anlieger einer Verbindungslinie Düsseldorf – Krefeld – Venlo, Köln – Krefeld – Venlo oder Köln – Gladbach – Venlo zu werden. Sie wird das wichtigste Glied der internationalen Strecke vom einzigen eisfreien Nordseehafen Vlissingen in Holland nach Preußen. Dies weiß natürlich auch der aus Dülken stammende Kaufmann und junge Präsident der Rheinischen Eisenbahn Gesellschaft, Gustav Mevissen.

Auf seine und des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Franz-August Eichmann, Anregung treffen sich am 19. November 1845 Interessenten für eine Linie Köln – Gladbach – Venlo. Eine Gesellschaft „Niederrhein-Nordsee-Verbindungsbahn“ wird 1846 gegründet, scheitert jedoch am Konkurrenzkampf zwischen Köln und dem Regierungssitz Düsseldorf. Die Kölner verlangen nämlich zeitgleich die Verbindung Köln-Neuss-Krefeld, was die Stadt zum Verkehrsmittelpunkt gemacht hätte. Die Regierung in Düsseldorf bevorzugt wohl auch deswegen eine Linie Düsseldorf – Krefeld – Venlo und schlägt darüberhinaus eine Zweigbahn von Viersen über Süchteln bis Paas (nördlich von Hinsbeck) vor, wo diese in die Hauptbahn einmünden könnte. Als Vermittler zwischen den interessierten Gemeinden und Komitees bestellt man den Viersener Kaufmann und Geheimen Kommerzienrat Diergardt.

1846 geht mit dem Wissen um die Düsseldorfer Wünsche das „Comite der projectierten Viersen-Dülken-Venloer Eisenbahn“ in die Offensive. Zunächst wird im Januar die Zeichnung von Aktien angeboten, im Februar die Verlängerung des Projektes über Rheydt nach Köln vorgeschlagen, und schließlich vereinigt sich dieses Komitee.

Für diese neue Bahn wurden zwei Trassen ins Auge gefasst. Die eine lief von Viersen über Dülken, Boisheim, Breyell/Lobberich, nach Kaldenkirchen und die andere führte über Süchteln, Grefrath und Louisenburg nach Venlo. Für beide Linien wurden von den betroffenen Gemeinden und Städten ein Eisenbahnkomitee gegründet, das in Denkschriften und Eingaben an die mit dem Projekt befassten Behörden (Eisenbahnkommission in Köln, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in Berlin, Regierungspräsident in Düsseldorf, Oberpräsident in Koblenz) die wirtschaftlichen Vorteile „ihrer“ Strecke herauszustellen suchte. Während dieses Wettstreits wurde so gut es ging mit Zahlen manipuliert und der Gegenseite Überschätzung, Irrtümer und Unwahrheiten vorgeworfen. Die an einem Eisenbahnprojekt interessierten Gemeinden und Städte mussten auch finanzielle Beiträge leisten.

Vom bautechnischen gesehen hatte die Süchtelner Trasse jedoch den Vorteil, dass sie über den Damm des zwischen 1808 und 1810 unter Napoleon gebauten Nordkanals führte, der jedoch nie fertiggestellt worden war. Die Arbeiten wurden 1810 abgebrochen, allerdings waren die Erdarbeiten auf weiten Strecken fertiggestellt, insbesondere der Abschnitt zwischen Sittard und Grefrath, sowie teilweise zwischen Grefrath und der Nette. Da es sich um Staatseigentum handelte, waren hier auch die Grunderwerbskosten gering. Die Dülkener Strecke dagegen hatte den Vorteil, dass sie mehrere Orte direkt an die Bahn anschloss.

Berlin zögert die Entscheidung über den Streckenverlauf hinaus. Es dauert bis 1851/52, ehe neue Impulse für die Verbindung zur Nordsee kommen. Vor allem Vertreter der Gladbach-Venloer-Linie setzen sich mit Eingaben und Denkschriften für den Bahnbau ein. Die RCKGE (nun unter dem Dach der vereinigten Aachen-Düsseldorfer-Ruhrorter-Eisenbahn) beantragt 1851 beim Handelsminister die Konzession zum Bau der Bahn, deren Erteilung dieser aber von der Effektivität des laufenden Betriebes abhängig macht. Die Handelskammer Gladbach setzt sich in ihrem Jahresbericht 1852 für die verlangte Konzession ein und schreibt: Zur Befriedigung der diesseitigen Bedürfnisse ist jetzt vorab die Verbindung mit Venlo, unserem die transatlantischen Beziehungen hauptsächlich vermittelnden Maashafen herzustellen. Ein Jahr später wird die Wichtigkeit des Venloer Hafens für den Kreis Gladbach in Beziehung zu den Bestrebungen Krefelds gesetzt: Venlo ist der Hafen des Gladbacher Fabrik-Distrikts; 9/10 seiner Rheederei sind für denselben und nicht 1/10 ist für Kempen, Geldern, Straelen und das Clevische befrachtet. Geldern, Goch, Cleve haben niedriger gelegene Maasorte und verkehren bedeutend mit Venlo.

Am 18. 9. 1853 besucht der Düsseldorfer Regierungspräsident die konkurrierenden Viersen-Venloer-Linien und lässt sich vor allem den Verlauf der Dülkener Linie ausführlich darstellen. Es gab zu Beginn des Jahres 1861 verschiedene Möglichkeiten für den Verlauf der Strecke Gladbach-Venlo: Von Gladbach als gerade Linie über Dülken und Boisheim führend (das war die Planung der Gladbacher Komitees von 1861, fußend auf einer Denkschrift von 1853). Die im Kreisarchiv Viersen vorhandene Planungszeichnung verdeutlicht, dass die „Viersener Strecke“ sehr ungünstig dargestellt und sehr unmaßstäbliche gezeichnet wurde, was verdeutlicht die z. T. zweifelhaften Methoden, mit denen damals um die Erlangung von Vorteilen gestritten wurde. So ist die Nordkanal-Alternative, die Viersen in seiner Bedeutung gestärkt hätte, in der Planungszeichnung einfach weggelassen worden.

Die Auseinandersetzung um die Verbindung mit Venlo spielt sich nun hauptsächlich zwischen Dülken und Süchteln ab. Die Bahnlinie des schon erwähnten Viersen-Dülkener-Komitees soll von Viersen aus kommend über Dülken, Boisheim, Breyell, Kaldenkirchen nach Venlo führen. In den Komitees befinden sich vor allem Kaufleute und Beamte der von der Bahnlinie berührten Kommunen. Das sind beim Nordkanal-Projekt z.B. die Bürgermeister von Süchteln, Grefrath und Wachtendonk, aber auch die Landräte der Kreise Kempen und Gladbach sowie der Bürgermeister Rottländer aus Gladbach. Viersener waren in beiden Komitees vertreten, so halten die Viersener zwei Eisen im Feuer. Ihnen ist es letztlich egal, welche Linie den Zuschlag erhält. Wichtig ist für sie nur, dass Viersen Ausgangspunkt der Strecke nach Venlo bleibt.

1856 wird die Aachen-Düsseldorf-Ruhrorter-Eisenbahngesellschaft (ADREG) von der Regierung beauftragt, die Realisierung der Strecke in die Hand zu nehmen. In einem Schreiben an die betroffenen Gemeinderäte vom 26.5.1856 skizziert die ADREG die Bedingungen zur Herbeiführung einer Lösung, wie sie ihr vorschweben:

a) vollständige und unbedingte unentgeltliche Überweisung des Bauterrains
b) baldige lebhafte Betheiligung bei der Actienzeichnung
c) aktive Hilfe bei der Werbung von privaten Anteilzeichnern.

Süchteln will die Grundstücke unentgeltlich besorgen, die Kosten der Erdarbeiten auf seinem Gebiet tragen und darüber hinaus 16.000 Taler zur Verfügung stellen für die Fall, dass die künftige Eisenbahn die Stadt Süchteln berührt und eine Haltstelle dort angelegt wird.

Viersen reagiert nur zögernd; Schwierigkeiten mit dem Streckenverlauf in den Niederlanden und eine allgemeine Finanzkrise drängen nicht zum Handeln. Durch diese Unentschlossenheit, gepaart mir dem vermeintlichen Wissen, man sei auf jeden Fall Nutznießer der neuen Bahn, gerät Viersen 1860 in Bedrängnis. Am 22. August 1860, vier Tage nach dem Erlass eines niederländischen Gesetzes, das unter anderem den Ausbau der Strecken Vlissingen–Roosendaal und Breda-Venlo festsetzt, wird das bis dahin kaum beachtete Gladbacher Komitee aktiv.

Am 22.8.1860 ist in einer Verhandlungsniederschrift zu lesen:

Verhandlung über das Project „Ausbau einer Eisenbahn von Venlo über Kaldenkirchen, Dülken nach Gladbach“
Teilnehmer: Bürgermeister Rottländer, Justizrath Pauls, Fabrikbesitzer Lamberzt, Kaufmann Printzen, Kaufmann Quack, Kaufmann Pferdmenges, Kaufmann Kloeter, Kaufmann Pauen – aus Gladbach;
Kaufmann Kauertz, Kaufmann Ziellehsen und Kaufmann Symons aus Kaldenkirchen, Bürgermeister Doergens, Kaufmann Specken, Kaufmann Vogelsang und Kaufmann Hoffmanns aus Dülken
Es wurde beschlossen, den Ausbau einer Eisenbahn von Venlo über Kaldenkirchen, Breyell/Lobberich, Dülken und Viersen nach Gladbach in der auf einer vorliegenden vom Geometer Terharst aufgenommenen Karte angegebenen Richtung einmündend bei Hellenabrunn in die Ruhrort-Crefeld-Creis Gladbacher Bahn zu beantragen. Um zur Durchführung dieses Projektes zu gelangen, soll das Comite die gutscheinenden Schritte vornehmen; besonders wird vorgeschlagen, sich mit folgenden Orten und Gesellschaften in Verbindung zu setzen: Venlo, Kaldenkirchen, Breyell, Lobberich, Dülken, Viersen und Gladbach, der Direction der Aachen-Düsseldorfer Bahn, dem Comite des Düsseldorfer Brückenbauers, der Direction der Bergisch-Märkischen Bahn und baldmöglichst eine Deputation nach Venlo zu senden, um der Handelskammer und dem Gemeinderath oder dem Eisenbahn-Comite daselbst Kenntnis von dieser heutigen Verhandlung zu geben, um diese für das fragliche Project zu gewinnen zu sichern. Weiterhin wird vorgeschlagen, dass die staatliche Regierung den Ausbau durch zinsgarantierte Stammaktien übernehmen, resp. Die Bahn als Verlängerung der Ruhrort-Crefelder – resp. Aachen – Düsseldorfer Bahn gelte und aufgenommen werde.
Es sollte darüber hinaus in Erwägung gezogen werden, ob die holländische Regierung zur Betheiligung an dem Project – wie solches bereits durch die belgische Regierung bei der Rheinischen Eisenbahn geschehen, angegangen werden solle.


Zur Begründung der Zweckmäßigkeit der Bahnlinie wird u. a. angeführt:

Die Länge der Bahn beträgt nur ab Preußische Grenze bis zur Einmündung in die Ruhrorter Bahn bei Hellenabrunn 5.280 Ruthen = 2 3/5 Meilen und ist danach die Kürzeste und nach dem Terrain die zweckmäßigste und für die Rentabilität die günstigste Linie.

Eine Abschrift der Verhandlungsniederschrift geht am Tag darauf bei den vorgenannten Institutionen und Kommunen ein, so auch bei Bürgermeister Kessels in Lobberich, der diese dem Gemeinderatsmitglied und Fabrikbesitzer Victor de Ball zur Kenntnisnahme übersendet.

Im Mai 1861 liegt die entsprechende sachliche Denkschrift, die von Kreisbaumeister Lange angefertigt wurde vor. Auf der Sitzung des Gladbach-Viersen-Dülken-Venloer Eisenbahn-Komites vom 8.5.1861 in Dülken (Teilnehmer: Bürgermeister Rottländer, die Kaufleute Lambertz, Printzen, Pferdmenges, Quack und Kreisbaumeister Lange aus Gladbach, Bürgermeister Doergens und die Kaufleute Bücklern, Specken, Vogelsang und Hoffmanns aus Dülken, Bürgermeister Kessels und Kaufmann de Ball aus Lobberich sowie Kaufmann Kauerz aus Kaldenkirchen) wurde der Entwurf der Denkschrift geprüft und nach eingehender Prüfung und Würdigung folgendes beschlossen:

Druck der Denkschrift mit den Unterschriften sämtlicher Comite-Mitglieder in 500 Exemplaren nebst Anfertigung einer lithografischen Karte und die Verteilung derselben an Personen und Stellen und betroffenen Ministerien

  1. Landrat Schubarth und Kreisbaumeister Lange zu bitten, als Deputation die nötigen Exemplare persönlich dem Minister zu überreichen
  2. Beitragsfestsetzung für Kosten:
    Gladbach 100 Thaler
    Dülken 65 Thaler
    Lobberich 25 Thaler
    Breyell 25 Thaler
    Kaldenkirchen 25 Thaler

Der Lobbericher Gemeinderat lehnt den zu zahlenden Zuschuss von 25 Thalern am 17.5.1861 ab, was den Gladbacher Bürgermeister Rottländer Veranlassung gibt am 4.7.1861 ein Ersuchen an den Lobbericher Bürgermeister Kessels zu schicken: Ich bitte Sie um Mittheilung, ob nicht der Gemeinderatsbeschluß wegen der „großen Sache“ noch einmal zu überdenken ist.

Dies geschieht interessanter Weise jedoch nicht und die Gemeinde Lobberich wird von der Streckenführung ausgeschlossen.

Am 13. 4.1863 gründet sich schließlich für die besagte Linie die Preußisch-Niederländische Verbindungsbahn, die am 21. August die Konzessionen (durch allerhöchste Cabinets-Order) zum Bau der Strecken (Gladbach-) Viersen-Venlo und Venlo – Kempen zum Anschluss an die Krefeld-Nijmegener Linie erhält.

Am 29. Januar 1866 wird der Verkehr auf der Strecke aufgenommen, die von Viersen bis Dülken im Prinzip die heute noch vorhandene Linienführung hat. Die gesamte Bahn wird zwischen Viersen und Kaldenkirchen eingleisig ausgeführt; zur Weiterführung nach Gladbach wird parallel zur schon bestehenden Strecke der Ruhrort-Crefeld-Kreis Gladbacher Eisenbahn ein eigenes Gleis gelegt.

 

Die Linie Kempen – Kaldenkirchen - Venlo

Das „Cöln-Crefelder-Eisenbahn-Comitee“ brachte mit einem zweiten Gesuch vom 12.7.1852 den ersten Antrag aus 1846 in empfehlender Erinnerung, da die rege Tätigkeit für eine Konkurrenzlinie Köln-Neuss-Mönchengladbach-Viersen-Dülken-Venlo auf der Westseite und einer weiteren Linie Homberg-Moers-Xanten-Kalkar-Kleve auf der Ostseite, zur Eile antrieb. Vor allem barg die Verbindung mit Holland über Viersen gefährliche Vorteile in sich: Die Strecke war nämlich erheblich kürzer, die Baukosten konnten durch Benutzung des von Napoleon erbauten Nordkanals von Viersen bis Luisenburg auf ein Drittel gesenkt werden und das Kanalgelände war Staatseigentum. Diese Gefährdung des eigenen Niederrhein-Projektes konnte eine rückläufige Entwicklung für die Kreise Kempen, Geldern und Kleve bedeuten.

Eine erneute Versammlung des „Köln-Krefelder-Komitees“ mit den Abgeordneten der drei Kreise brachte am 9.3.1853 in Geldern eine Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und staatspolitischen Gesichtspunkte. Diese Denkschrift konnte jedoch erst nach Beseitigung unvorhergesehener Schwierigkeiten am 3.10.1853 an den königlichen Handelsminister von der Heydt nach Berlin weitergegeben werden. Sie hatte Erfolg. Am 5.12.1853 wurde durch „Allerhöchsten Erlass“ die landesherrliche Genehmigung zum Bau der Linie Köln – Neuss – Krefeld – Geldern – Kleve mit Anschluss nach Nijmegen erteilt. Kempen war nicht genannt und damit seine Berührung in Frage gestellt, was umso niederschmetternder war, als ursprünglich ja zwei Linien nach Holland über Kempen laufen sollten.Anschluss an das Eisenbahnnetz zu finden, war aber für Kempen als Kreisstadt eine Prestigefrage, als wirtschaftlicher Mittelpunkt einer Vielzahl von Landgemeinden eine Lebensfrage.

Es dauerte nicht lange, bis sich für Kempen aus der Unterlassung einer entsprechenden Eingabe bei der Staatsregierung eine kritische Situation ergab: Hüls, das bislang als Landgemeinde bescheiden im zweiten Glied gestanden hatte, witterte seine Chance und bewarb sich in einer Eingabe an die Rheinische Eisenbahngesellschaft – die Nachfolgerin des „Köln-Krefelder-Komitees“ um Berücksichtigung. Die Hülser machten ihren Antrag schmackhaft mit dem Hinweis, dass eine Linienführung von Hüls nach Aldekerk eine halbe Meile (3,750 km) kürzer sei als über Kempen, auch würde von dem kostspieligeren Bruchgelände des Aldekerker Bruchs von Kempen aus in seiner vollen Breite durchschnitten werden müsste.

Die Vorteile würden die Baukosten über Hüls um 89 800 Taler senken. Nach vielen Streitereien, „faulen Kompromissvorschlägen“ und Anhörungen die zu nichts führten, nahmen die Kempener das Recht zur Selbsthilfe war. Es wurde beschlossen, zumal man anderenorts mit dem Bahnbau begonnen hatte, eine Deputation zu unmittelbaren Verhandlungen mit dem Königlichen Handelsminister von der Heydt nach Berlin zu senden. Zwei Tage nach deren Eintreffen drahteten die beiden Abgesandten Dr. Kauerz und Francken das denkwürdige Telegramm aus Berlin: „Soeben - erklärte der Minister von der Heydt - der König habe die Linie über Kempen genehmigt.“ Ein wichtiger Sieg war errungen und in der Thomasstadt war eitel Freude. Bereits am 31.5.1862 wurde auch in Kempen mit dem Bahnbau begonnen. Die feierliche Übergabe für den öffentlichen Verkehr erfolgte am 5.3.1863. In den ersten Monaten verkehrten täglich vier Züge in beide Richtungen.

Nachdem der Bau der Crefeld-Nymegen Eisenbahn über Kempen feststand, war für die Orte Grefrath und Lobberich das Project einer Eisenbahnverbindung von Kempen nach Venlo mit Anschluss an die holländische Staatsbahn von erheblicher Bedeutung geworden.

Die niederländische Staatsregierung hatte der englischen Gesellschaft Robert Sharpe and Sons in Westminster die Konzession für die Linien von Breda und Utrecht nach Venlo erteilt und einen Anschluss an die niederrheinischen Eisenbahnen gutgeheißen. Diese Gesellschaft plante nun ebenfalls eine Verbindung von Venlo über Kempen nach Krefeld und hatte Anfang 1959 die Strecke vermessen und vor dem Kuhtor in Kempen einen Platz für den Bahnhof abgesteckt. Die gleichzeitigen Pläne der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, den internationalen Verkehr von Köln über Mönchengladbach – Viersen – Dülken nach Venlo zu leiten, vereitelten den englischen Plan.

Die Bahnlinie Krefeld – Kempen – Nymwegen war von der Rheinischen Eisenbahngesellschaft geplant und gebaut worden. Die Strecke Kempen – Venlo sollte von der Gesellschaft gebaut werden, die schon die Bahnlinie Viersen – Dülken – Venlo plante, finanzierte und baute: die Aktiengesellschaft der Preußisch-Niederländischen Verbindungsbahn. Diese schlug zunächst eine Trasse vor, die weit nördlich am Dorf Grefrath vorbei, nämlich an der Paas vorbeiführen sollte. Dies konnte nicht im Sinne Grefraths und der anderen betroffenen Gemeinden sein und so suchte Grefraths Bürgermeister SpickenheuerVerbündete“.

Am 12.5.1862 sandte er ein Schreiben an den Lobbericher Bürgermeister Kessels: Nachdem der Bau der Crefeld-Nymegen Eisenbahn über Kempen nunmehr feststeht, ist das Project einer Eisenbahnverbindung mit Venlo mit Anschluß an die holländische Staatsbahn in den Vordergrund getreten und ist man allseitig sehr bemüht, diese Verbindungsbahn zu erhalten. Für die Dülkener Linie ist bereits eine Deputation nach Berlin abgegangen und für die Nordkanallinie wird dieselbe morgen dorthin abreisen. Es bleibt noch zweifelhaft, welche Linie den Sieg davon tragen wird, da das Ergebnis für die Dülkener Richtung von nachhaltigem Einfluß für die Nordkanallinie ist.

Um indessen den Einwand der Konkurrenzlinie Dülken zu beseitigen ist nunmehr gefordert, die Nordkanallinie nur bis Grefrath zu benutzen und von da die Ortschaften Hinsbeck, Lobberich, Breyell und Kaldenkirchen möglichst zu streifen, wonach Lobberich beinah ¼ Meile von der etwa im Sassenfeld zu machenden Station entfernt wäre.

Gleichzeitig tritt aber auch das Project von Kempen über Grefrath in derselben Richtung wie angedeutet hervor, wofür Oberbaurath Hartwig sich positiv geäußert haben soll: "Ew. Wohlgeboren wollen hieraus gefl. Entnehmen, welch großes Interesse auch für Lobberich besteht und ersuche Sie daher dringend, ungesäumt eine Petition an den Geh. Staatsminister für Finanzen v. d. Heydt abgehen zu lassen, dahin lautend, einer Eisenbahnverbindung mit Venlo im Anschluß an die holländische Staatsbahn einer der beiden Richtungen von Viersen über den Nordkanal oder von Kempen über Grefrath die Genehmigung erteilen zu wollen."

Mitte der 1860er-Jahre standen letztlich drei verschiedene Streckenführungen der späteren Bahnlinie zur Überlegung. Die Variante A sollte an den Krickenbecker Seen vorbeigeführt werden. Nach Variante B plante man eine Streckenführung an der Grefrather Dorenburg vorbei Richtung Hinsbeck und südöstlich an Leuth vorbei nach Kaldenkirchen.

Am 14. März 1864 schlossen Preußen und die Niederlande einen Staatsvertrag, indessen Artikel 1 es heißt:

Beide Regierungen erklären sich gegenseitig bereit, die Herstellung einer Eisenbahn zu fördern, welche von Venlo nach der beiderseitigen Landesgrenze führen und sich auf Preußischem Gebiete in zwei Arme theilen soll, von denen sich der eine über Dülken nach Viersen, der andere nach Kempen auf dem direkten Wege, welchen die örtlichen Verhältnisse gestatten werden, erstrecken wird.

Die Gesellschaft der Preußisch-Niederländischen Verbindungsbahn hielt zunächst an der Trasse über Paas (Variante B) fest, weil sie am wenigsten Geländeschwierigkeiten bot und die Formulierung auf direktem Wege in Art. 1. des Staatsvertrages diese Trasse nahe legte. Die Bahnlinie sollte geraden Weges von Kempen auf Paas zu und weiter über die Trasse des Nordkanals geführt werden, später vom Nordkanal abschwenken nach Südwesten an den Krickenbecker Seen vorbei und südlich um Leuth herum. Für diese Strecke sprachen in erster Linie die geringen Baukosten, da sie durch ebenes Gelände führte und zum Teil die Trasse des Nordkanals benutzen konnte.

Die von Grefrath und Lobberich verlangte Trasse musste bei Milbeck über eine Höhe geführt werden. Die Eisenbahngesellschaft wehrte sich vehement gegen die erheblichen Mehrkosten, die beim Bau der Anrampungen und des tiefen Einschnittes entstehen mussten. Die Gemeinden verlangten jedoch diese kostspieligere Trasse, damit die wirtschaftlichen Vorteile einer Bahn von den Bürgern und Gewerbetreibenden besser genutzt werden konnten. So schrieb der Lobbericher Bürgermeister Kessels an die Wirklichen Gemeinen Staatsminister und Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten Herrn Grafen von Itzenplitz in Berlin u.a.:

"Eine Bahn von Venlo nach Kempen (ohne Einbindung der betroffenen Gemeinden) kann in keiner Weise dem lokalen Verkehr Rechnung tragen, sie wird, mag sie nun von Venlo oder von Kaldenkirchen ausgehen, keinen einzigen Zwischenort von irgendeiner Bedeutung berühren, sondern einen unfruchtbaren und wenig bevölkerten Landstrich durchschneiden. Diese Bahn wird daher nur diejenige Bedeutung haben, welche sie überhaupt für die holländischen Interessen wünschenswert macht, nämlich die durch internationalem durchgehenden Verkehr von Holland nach dem Ruhr-Kohlen-Gebiet."

Es gab jedoch auch noch andere Argumentationen gegen die von der Eisenbahngesellschaft abgesteckten Route:

"Der bei weitem größere Theil der direct berührten Anwohner dieser Linie C besteht aus Webern mit einer Gesamtzahl von 5000 Webstühlen; dieselben liefern bekanntlich das größte Contingent zum Personenverkehr, da sie nicht in geschlossenen Räumen arbeiten, sondern die Rohstoffe in den Städten abholen und die Fabrikate dort abliefern, so daß jede Werkstätte wöchentlich den Weg machen muß. Die Mehrzahl dieser Arbeiter von Kaldenkirchen ab, arbeitet für Crefeld, Kempen, Gefrath, Lobberich sowie für Süchteln und Viersen. Wie ihnen eine Bahn mit gelegenen Stationen ein Bedürfnis ist, so unterhalten sie selbst den lebhaftesten Verkehr mit ihr“.

Außerdem wurde in der Denkschrift auf Kempen als Kreisstadt und Kaldenkirchen als Hauptzollamt und die Notariate, Friedens- und Polizeigerichte des Bezirks hingewiesen, die nun leichter zu erreichen seien. Außerdem beziehe man aus Venlo für alle Bauten der Umgebung Steine, Werkstücke, Platten und Dachziegel sowie Kalk, Guano, Farbhölzer, Baumwolle und Colonialwaren.

Die Eisenbahngesellschaft weigerte sich jedoch weiter, auf diese für den örtlichen Verkehr sinnvollste Linie einzugehen. Die Kosten für die Überwindung der Anhöhe zwischen Lobberich und Grefrath waren ihr zu hoch. Dies zeigt wieder einmal mehr, dass die privaten Gesellschaften in erster Linie Verbindungen zwischen großen Städten anstrebten, die auch international genutzt werden konnten und daher gewinnträchtiger erschienen.

Die Eingaben und Denkschriften hatten erst Erfolg, nachdem die Rheinische Eisenbahngesellschaft – wie beschrieben – die Konzession übernahm. Da die Gesellschaft bereits zwei Jahre zuvor die Linie von Krefeld über Kempen nach Kleve in Betrieb genommen hatte, war ihr an dieser weiteren günstigen Verbindung nach Holland sehr gelegen.

In einem Bericht der Handelskammer zu Neuss ist zu lesen: Wichtiger als die rheinische Bahn (die Strecke Cleve – Nymwegen) und die von ihr durchlaufenden Gebiete dürfte sich jedoch der Anschluss an das holländische Bahnnetz herausstellen, welchen die rheinische Bahn durch Übernahme der Strecke Venlo – Kempen von der preußisch – Niederländischen Verbindungsbahn erworben hat. Sollte Venlo, wenn das holländische Bahnsystem seiner Vollendung entgegengeführt ist und diese Stadt mir Rotterdam und Vlyssingen in direkter Verbindung steht, einen großen Theil des Verkehrs der holländischen Seehäfen nach Süddeutschland an sich ziehen, wie vielfach behauptet wird, so würde die rheinische Bahn vermöge ihrer Rheinlinie bis Bingerbrück wohl der Art situiert sein, um die größere Hälfte der Transporte auf Venlo – Kempen in Concurenz mit Viersen – Venlo hinüberzulenken.

Dem Comité für die Eisenbahnlinie Kaldenkirchen – Kempen in Richtung südlich von Grefrath gehörten Herren aus den Ortschaften Oedt, Mühlhausen, Grefrath, Lobberich und Kempen an. Bürgermeister Spickenheuer in Grefrath oblag die Geschäftsführung. Für die Gemeinde Oedt gehörte Bürgermeister Mooren dem Comité an. Für die Gemeinde Lobberich trat der Nachfolger des im September 1864 verstorbenen Johann Heinrich Kessels (Rittergutsbesitzer des Hauses Ingenhoven und Ritter des Roten Adlerordens vierter Klasse) Maximilian Winkelmann (Rittergutsbesitzer des Hauses Traar bei Krefeld, 1860 Bürgermeister von Brüggen und Born) in das Comite ein.

Am 20. Juli 1864 erfolgte die Grundsteinlegung für das neue Lobbericher Rathaus. Am Ende der Urkunde heisst es: „…. Und der ganze Ort sieht der frohen Hoffnung entgegen, daß er bald druch den gegenwärtig in Angriff genommenen Ausbau einer Eisenbahn von Venlo nach Viersen und von Venlo nach Kempen mit der übrigen Welt in eine leichte Verbindung treten wird. Hier ging es um die Teilnahme an der seinerzeit „hochmodernen, die Welt erschließenden Verkehrsmittel Eisenbahn" und speziell um Anschlüsse an die seit 1863 durchgängig existierende Linie Nijmegen-Köln.

Bürgermeister Winkelmann schrieb im Auftrag des Gemeinderates an den Wirklichen Gemeinen Staatsminister und Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Herrn Grafen von Itzenplitz in Berlin:

Nachdem durch die allerhöchste Cabinetts-Order vom 21. August 1863 die Genehmigung zum Bau einer Eisenbahn von Viersen über Dülken bis zur preußisch-niederländischen Grenze bei Venlo ertheilt worden und mit dem Bau dieser Linie bereits begonnen worden ist und jetzt ein Anschluß der Krefeld-Clever Eisenbahn geplant wurde, beziehen wir uns auf das Statut der Aktiengesellschaft der Preußisch-Niederländischen Verbindungsbahn, dass die Gesellschaft verpflichtet worden ist, auf Verlangen des Staates eine Eisenbahn von der Königlich Preußischen Grenze bei Venlo nach Kempen bauen zu lassen.

Im September 1864 werden erneut die Probleme der Streckenführung Grefrath – Lobberich seitens der Bahngesellschaft in die Verhandlungen eingebracht und die betroffenen Gemeinden zu einer Verhandlung in den Kempener Bahnhof eingeladen. Die Aktiengesellschaft der Preußisch-Niederländischen Verbindungsbahn verkaufte in der ersten Jahreshälfte 1865 alle Rechte für den Bau und Betrieb einer Eisenbahn zwischen der Landesgrenze bei Venlo und Kempen an die Rheinische Eisenbahngesellschaft und übertrug damit auch alle Rechte und Pflichten eines Unternehmer- und Bauvertrages mit Herrn Pontus Kleman und dem Handlungshaus Hinde & Gladstone in London (Gesetzessammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1865, S. 912 ff.). Letztlich fiel die Entscheidung über den Bau der Eisenbahnlinie Kempen – Venlo Ende 1865, und zwar in Richtung südlich an Grefrath vorbei.

Nach Festlegung der Trasse rief man die Gemeinden zur finanziellen Beteiligung auf. Auf Bestreben von Bürgermeister Winkelmann waren – mit ihm – 31 Lobbericher Bürger – bereit, 2000 Thaler für den Bahnbau zur Verfügung zu stellen, sie verpflichteten sich am 28. Februar 1866 mit einer entsprechenden Erklärung:

 

1

Niedieck-Schölvink

Fabrikinhaber

750 Th

2

Mommers, Theodor

Fabrikant

250 Th

3

J.L. de Ball & Nachf.

Fabrikant

250 Th

4

Kessels, Mathias

Gast- und Schankwirt

100 Th

5

Schmitter, Tillmann

Gutsbesitzer

50 Th

6

Krins, Heinrich

Pfarrer

50 Th

7

Schieffer,

Arzt

50 Th

8

Gartz, Eduard

Gutsbesitzer

50 Th

9

Döhmer, Johann Wilhelm

Notar

50 Th

10

Sarter, Johann

Apotheker

50 Th

11

Huenges, Jacob

Schankwirt

50 Th

12

Färvers, Arnold

Schankwirt

60 Th

13

Heythausen, Heinrich

Gastwirt

25 Th

14

Gartz, Gebrüder

Ackerer

25 Th

15

Boetzkes, W.

Handelsmann

15 Th

16

van der Upwich, Hermann

Fabrikant

12 Th 15 sgr

17

de Ball, Victor

Gutsbesitzer

12 Th 15 sgr

18

Thielen, Conrad

Gutsbesitzer

12 Th 15 sgr

19

Bäumges, Heinrich

Ackerer

12 Th 15 sgr

20

Dohmes, Egidius

Schankwirt

10 Th

21

Hoeren, Johann

Riethmacher

10 Th

22

Brackelsmann, Martin

Schmied

10 Th

23

Koenigs, Wilhelm

Ackerer

10 Th

24

Koenigs, Nicolas

Ackerer

10 Th

25

Schoenkes, Peter Mathias

Ackerer und Schankwirt

10 Th

26

Meertz, Paul

Schreiner

5 Th

27

Schuren, Hermann

Schreiner

5 Th

28

Hasencox, Peter Johann

Anstreicher und Kleinhändler

5 Th

29

Wienen, Wienand

Gerber

5 Th

30

Winkels, Mathias

 

5 Th

31

Winkelmann, Max

Bürgermeister

50 Th

 

Daraufhin beschloss der Lobbericher Gemeinderat am 3. März 1866:


Nachdem der Vorsitzende die Mittheilung gemacht, daß die Rheinische Eisenbahn Gesellschaft sich nicht abgeneigt zeige, die von Kempen nach Venlo führende Bahn über Lobberich auszubauen und es jetzt darauf ankomme, inwiefern für diese seitens der Gemeinde wie Betroffene (Bürger) an den Tag gelegt wurde, beschließt der Gemeinderat in Anerkennung des großen Werthes, den die Nähe einer Eisenbahnstation für die hiesige Gemeinde hat, wie dies bereits durch die Zusicherung von 2.000 Thaler aus freiwilligen Beiträgen bekundet worden für den Ausbau der Eisenbahnlinie von Kempen – Lobberich – Kaldenkirchen 4.000 Thaler aus Gemeindemitteln zu bewilligen und bei der Eröffnung der Bahn an die Direction der Rheinischen Eisenbahn Gesellschaft auszuzahlen für den Fall und unter der Bedingung, daß die Gesellschaft die Eisenbahnlinie in keiner größeren Entfernung an dem Orte Lobberich vorbeiführt, als dieselbe zuletzt von den Geometern Fiedler und Schmitz am 23. 2. d. J. abgesteckt worden ist, und daß der Theil des Bahnhofes resp. der Haltestelle mit dem Stationsgebäude angelegt wird und zwar zwischen demjenigen Wege, welcher von der St. Nicolas Kapelle zu Lobberich aus direct druch einen Hohlweg nach Hinsbeck führt und dem nach der Bauerschaft Oirlich führenden Heggespoaler Wege.

        
                                                     Skizze aus dem Kreisarchiv in Kempen

 

Darüber hinaus beantragte der Gemeinderat, den Bahnhof resp. Haltestelle um 25 Ruthen in Richtung des Ortes zu verschieben. Dies erfolgte sicherlich in erster Linie im Interesse der ortsansässigen Firmen. Zwangsläufig war dies in den Augen der Rheinischen Eisenbahn Gesellschaft zu teuer, so äußerte sie sich am 20. März 1866 mit einem Schreiben an Bürgermeister Winkelmann:

Hinsichtlich der in Anregung gebrachten Verschiebung des Bahnhofes nach Lobberich zu um 25 Ruthen bemerken wir folgendes ergebenst: Diese Verlegung würde nicht nur die Curven viel ungünstiger gestalten, sondern auch die Linie um 40 Ruthen verlängern. Ferner würde dieselbe die Beseitigung des dort vorhandenen Waldes bedingen, dessen Taxierung jedenfalls nicht gering ausfallen würde. Auch die Rodungskosten würden sich sehr erheblich gestalten. Die Gesamtkosten der Ausführung an der dort gewünschten Stelle würden die des diesseitigen Projectes um mehr als 4.000 Thaler übersteigen, dieser Betrag mithin in keinem Verhältnis zu dem Gewinne von ca 100 Schritt geringerer Entfernung des Bahnhofes vom Orte stehen.

Letztlich wurde der Antrag seitens der Bahngesellschaft abgelehnt.

Auch in Mühlhausen/Oedt kamen einige Tausend Thaler zusammen:

Auf der Zeichnungsliste von Oedt erscheint an erster Stelle die Gemeinde Oedt mit 4000 Thalern, danach die Gebr. Holtz mit 1000, M. Girmes mit 200, P Mertes mit 200 und 12 weitere Bürger mit zusammen 3000 Thalern. Diese Zeichnungsliste enthält aber einen Vorbehalt: Die Zeichnungen werden jedoch nur unter dem ausdrücklichen Bedinge getroffen, dass die früher projectierte Linie südlich Oedt festgehalten, der anzulegende Bahnhof nicht über fünf Minuten vom Orte Oedt entfernt angelegt und das hierin nicht gehörige Nordkanal Bahn Project in der Richtung Süchteln – Grefrath mit dem gegenwärtigen nicht verbunden werde. Die Worte und das hierhin nicht gehörige bis nicht verbunden werde sind gestrichen worden; darunter steht der Vermerk (gestrichen auf Ers. D. Direction).

Bürgermeister Mooren ließ sich viel Zeit, bei der Aufsichtsbehörde die Genehmigung des Gemeinderatsbeschlusses über die Zeichnung der Aktien durch die Gemeinde Oedt zu beantragen. Er zahlte den Preis für die Aktien auch nicht eher, als der Bau der Eisenbahnstrecke Süchteln – Oedt – Kempen in Angriff genommen wurde, und ihm gefiel nicht, dass die Stadt Viersen lebhaft eine Verbindung mit der erhofften Paris – Hamburger Bahn über den Nordcanal Grefrath und Straelen beantragte, die Nachbargemeinde Grefrath also Anschluss an eine zweite Bahnlinie, ja sogar eine Kreuzung von Eisenbahnstrecken erhalten sollte und das bei der Opferwilligkeit der Gemeinde Grefrath für die Bahnlinie Kempen – Kaldenkirchen und dem Bahnhof in Grefrath.

Nur der Gemeinderat von Grefrath wollte zunächst nichts zahlen. Dies hing damit zusammen, schreibt A. Breil in seinem Aufsatz über die Eisenbahn in Grefrath, dass bereits seit Jahren ein nicht unerheblicher Teil der Bürger die nördliche Strecke befürwortet hatte. Daraufhin veranstaltete Bürgermeister Spickenheuer eine Unterschriftensammlung, die erfolgreich verlief und den Gemeinderat dazu veranlasste, 1.500 Thaler zu bewilligen. Die Mehrheit war allerdings nur zustande gekommen, weil die Stimme des Bürgermeisters Ausschlag gegeben hatte. Dies sollte noch ein Nachspiel haben, da ein Ratsmitglied zwar für einen Bahnhof aber gegen eine finanzielle Beteiligung war. Trotz dieser nun etwas unsicheren Rechtslage hoben jedoch der Regierungspräsident in Düsseldorf und der Oberpräsident in Koblenz den Beschluss nicht auf.



Am 06. Juli 1866 kommt es schließlich zu dem notariellen Vertrag zwischen der Bürgermeisterei Lobberich und der Direction der Rheinischen Eisenbahngesellschaft zu Cöln hinsichtlich der Bau der Eisenbahnlinie auf Lobbericher Gebiet, wie dies bereits im Gemeinderat beschlossen wurde. 

Mit dem Abraum des Schlibecker Berges, der durchquert werden musste, schuf man den Damm durch den Wittsee. Damals waren "italienische Hilfsarbeiter" mit den Erdarbeiten beschäftigt, wie Paul Brocher, zwischen 1920 und 1950 Leiter des Hauptamtes der Gemeinde Lobberich, in einem Bericht festgehalten hat. "Die Bewohner der umliegenden Dörfer machten sonntags gerne ihre Ausflüge dorthin, um die gewaltigen Erdarbeiten mit den fremdländischen Arbeitern zu besichtigen", hat er festgehalten. Der Durchstich war schließlich im November 1867 geschafft. So notierte das Kempener Kreisblatt am 31. November unter der Ortsmarke Grefrath: "Am verflossenen Dienstag ist die ungeheure Erdmasse des Lobbericher Berges vollständig durchstochen und dadurch der letzte Rest der Bahnstrecke Kempen-Venlo fertig gestellt worden. Die Schienen sind gelegt und man ist in der Lage, den ersten Eisenbahnzug von Kempen nach Venlo ablassen zu können."

Hatte das "Kreisblatt", damals die einzige Zeitung mit lokalen Nachrichten in dieser Gegend, noch am 30. November vermutet, dass nach der polizeilichen Abnahme der Bahnstrecke am 10. Dezember der Personenverkehr "definitiv" am 15. Dezember aufgenommen werde, so dauerte es dann doch noch bis zum 1. Januar, ehe der Zugverkehr offiziell aufgenommen wurde. Denn erst am 19. Dezember befuhr eine Lokomotive die Strecke von Kempen nach Kaldenkirchen. Während Kempener Ortshistoriker den ersten Zug "vielbejubelt und beifällig begrüßt" von Kempen nach Kaldenkirchen fahren lassen, hat Brocher den ersten Zug von Kaldenkirchren nach Kempen laufen lassen; ihm entstiegen in Lobberich sieben Reisende.

Die Eisenbahnlinie Kaldenkirchen – Kempen wurde am 1.1.1868 als Strecke der BME ( Bergisch Märkischen Eisenbahn; gegründet am 18.10.1843 in Elberfeld) mit Sitz in Elberfeld in Betrieb genommen. Am 4. Januar 1868 gab die Rheinische Eisenbahngesellschaft im Kreisblatt den Fahrplan für die Strecke bekannt: morgens um 7.09 Uhr ab Venlo, 7.40 Uhr ab Kaldenkirchen, 7.50 Uhr ab Lobberich, 8.03 Uhr ab Grefrath, Ankunft Kempen 8.15 Uhr; weitere Züge fuhren um 11.54 Uhr und nachmittags um 4.19 Uhr. Die Fahrzeit betrug 66 Minuten - wegen der Zollabfertigung in Kaldenkirchen. Ab Kempen fuhr der Zug um morgens um 9 Uhr, nachmittags um 3.15 Uhr und abends um 7.20 Uhr; da brauchte er nur 39 Minuten, weil dann in Venlo abgefertigt wurde.

Zunächst gab es nur Bahnhöfe in Kaldenkirchen, Lobberich (urspünglich auf Hinsbecker Terrain) und Grefrath und Kempen. Gleich zu Beginn suchte die Rheinische Bahngesellschaft Pächter für die Bahnhofs-Restauration in Lobberich und Grefrath (Anzeige im "Kreisblatt" vom 11. Januar 1868).

                
                                     Bahnhof Lobberich um 1900

Da diese Linie statt von Norden vom Süden her in den Kempener Bahnhof eingeführt wurde, war stets ein Lokwechsel erforderlich, was einen durchgehenden Verkehr zwischen Krefeld und Venlo sehr erschwerte. Im Normalfall fuhr der Kaldenkirchener Zug in ein Stumpfgleis (heute Fahrradabstellplatz) ein. Einen unvergessenen Höhepunkt in der Geschichte dieses Gleises verursachte ein durstiger Lokführer, der Ende der 20er Jahre seinen Zug erst im Wartesaal des Kempener Bahnhofs zum Stehen brachte. Daraufhin baute die Bahnverwaltung zur Sicherheit einen Scherenprellbock und zusätzlich einen gemauerten Prellbock ein.

Johann Finken schrieb in seinem Buch „Geschichte der ehemaligen Herrlichkeit Lobberich“:

Vom Anfange dieses Jahrhunderts bis zum Jahre 1860 blieb die Einwohnerzahl der Gemeinde Lobberich so ziemlich dieselbe. Als aber um diese Zeit die Seiden-Industrie ihren Einzug in die Gemeinde hielt, da wurde aus dem bescheidenen Dorfe in wenigen Jahren ein schmuckes Landstädtchen und die Wohnhäuser und Fabriken schossen wie Pilze aus der Erde – wozu auch der Bau der Eisenbahn im Jahre 1868 wesentlich beitrug, in dem er eine neue Straße, die Bahnstraße, entstehen ließ. 1860 zählte Lobberich 3.373 Einwohner, 1865 3.614, 1870 4.460 und 1875 5.016 Einwohner.

Besonders strukturverändernd wirkte sich die Eisenbahn für Ortschaften aus, die bisher nur von der Landwirtschaft lebten, wie etwa Lobberich, Hinsbeck, Oedt u.a.. In der Grenzstadt Kaldenkirchen verdrängte die Tabak- und Tonindustrie allmählich die Weberei. Die günstige Verbindung zum Rohtabakeinfuhrland Holland war hier sicherlich entscheidend.

Durch die Fertigstellung der Eisenbahnlinie Kempen-Venlo war letztlich auch Lobberich verkehrsgünstig angebunden. Vom Standortvorteil profitierten am ehesten vermutlich das mit Vorbedacht am Hinsbecker Weg angesiedelte neue Werk der Fa. J.L. de Ball & Cie. Nachf., in dem 1869 die Produktion aufgenommen wurde. Ansonsten hatten die Fuhren der großen Firmen von Süchtelner Straße/Sittard und der oberen Breyeller Straße einen nicht unerheblichen Anfahrtsweg. Für manche Produkte der Firma Niedieck dürfte sich auch eine Auslieferung über den Bahnhof Breyell empfohlen haben. Für Güter wie für Personen galt es, die zum Teil unwegsame Distanz zu überwinden. So lässt der Fuhrunternehmer Jacob Föhles an der Ecke Markt und Hochstraße einen Güter-Anmelde-Kasten anbringen. Dieser wurde täglich dreimal vor jeder Abfahrt der Bahn geleert.

Ab 1874 fuhr morgens gegen 9 Uhr auch ein Schnellzug von Vlissingen nach Köln über diese Strecke, der hier aber nicht hielt. Lobberichs Gemeindeväter bemühten sich ab 1880, diesen Zug in der "Seenstadt" halten zu lassen. Das aber wurde abgelehnt; auch in späteren Jahren hatten entsprechende Anträge keinen Erfolg. Am 25. Januar 1882 kam es beim Rangieren eines Güterzuges im Kaldenkirchener Bahnhof zu einem Unfall, als ein Arbeiter so unglücklich zwischen die Puffer zweier Wagen kam, dass er noch an der Unglücksstelle verstarb.

Im Oktober 1885 errichtet Norbert Bruns eine Hauderei (= Transportunternehmen dessen Fuhrpark aus Kutschen bestand. Der Betreiber wurde Hauderer genannt) einrichtet – der Standort der Kutsche war das Hotel Kessels (jetzt Hotel Stadt Lobberich) an der Hochstraße. In seiner Anzeige in der „Rhein und Maas“fügt er hinzu, dass er probeweise mit seinem Gefährt die Ankunft eines jeden Zuges erwartet. Die Reisenden, die vielleicht mit Gepäck im Lobbericher Norden standen, dürften die etwa 30 Pfennige für die bequeme Reise gerne geopfert haben. Diesen Fahrpreis pro Person nahm Bruns auch für Sonderfahrten, die er anlässlich der Breyeller Kirmes im Sommer 1887 von der Gaststätte Rütten unternahm („Rhein und Maas v. 4.6.1887).

Durch die neue Eisenbahnlinie sind jedoch nicht alle Transportprobleme gelöst. Daher bleiben alte Furhmannsrouten weiter erhalten, neue werden eingerichtet. Jacob Föhles leert montags und donnerstags abends um 9 Uhr den Anmeldekasten, lädt auf und fährt in der Nacht nach Krefeld, Hubert Plönes fährt dienstags und donnerstags. 1884 fährt Franz Heinrich Hammes aus Viersen dienstags und freitags die Strecke Viersen-Lobberich-Breyell-Boisheim-Dülken-Viersen und nimmt Gepäck auf bei Wwe. E. Dohmes, Markt und J. P. Schmitz, gegenüber der Niedieckschen Fabrik auf der Breyeller Straße. Schon 1873 bedient Johann Mathias Feikes von der Kirchhofstraße an jedem Dienstag und Freitag die Strecke Lobberich-Krefeld. Johannes Vandeburg fährt an jedem Donnerstag von Hinsbeck nach Viersen und nimmt bei van Krüchten auf der Hochstraße Güter auf. Wwe. Dellen beziehungsweise Carl Dellen aus Viersen fahren über Jahre mittwochs, später auch freitags die Strecken Veirsen-Dülken-Lobberich und Lobberich-Boisheim-Dülken-Viersen-Gladbach-Rheydt, mit drei Stationen in Lobberich. Der Viersener Peter Steffens kündigt die Runde Viersen-Dülken-Boisheim-Breyell-Lobberich-Süchteln fü 1890 an und vermerkt, dass von Viersen täglich ein Fuhrwerk nach Krefeld und Gladbach gehe. Das bedeutet für seine Kunden, dass durch Umladen die Fracht am zweiten Tage auch an diesen Zielen ist.

Erstmalig ab 1. Oktober 1893 wurden Bahnsteigsperren, die von Bahnsteigschaffnern besetzt waren, eingeführt. Die Kontrolle und Entwertung der Fahrkarten sollte nicht mehr vom Fahrpersonal durchgeführt werden. Das war verständlich, wenn man bedenkt, dass zu der damaligen Zeit noch Abteilwagen eingesetzt wurden, in die der Schaffner nur durch die außerhalb der Wagen angebrachten Trittbretter gelangen konnte.

                                
                                              Bahnhofspersonal um 1920

Die meisten Bahnhöfe besaßen, wie die Kirchen, über dem Eingangsbereich eine Bahnhofsuhr an der der Reisende die gültige Zeit ablesen konnte. Im Gegensatz zu heute, gab es vor 150 Jahren eine andere Uhrzeit. Erst ab dem 1. April 1893 wurde nicht mehr die Berliner Zeit, sondern die MEZ (Mitteleuropäische Zeiteinteilung) gewählt. Die Berliner Zeit ergab sich aus der Zuzählung von sechs Minuten zur Greenwicher Zeiteinteilung. Ab 1. Mai 1927 wurde die 24-Stundenzählung eingeführt.

Im Jahr 1894 schrieb die Generaloberin der Schwestern Unserer lieben Frau (Kloster Mühlhausen) an die Eisenbahndirektion in Köln und bat um die Errichtung einer Haltestelle in Mühlhausen, weil das dortige Mutterhaus viele Filialen besitze sowie ein Pensionat mit 130 Zöglingen. Der Bürgermeister von Oedt unterstützte das Gesuch und stellte einen Baukostenzuschuss in Aussicht, wenn der Bahnhof den Namen Mühlhausen-Oedt erhalten würde. Die Eisenbahndirektion forderte aber die Übernahme der Gesamtkosten in Höhe von 2.765 Mark. Oedt zahlte davon 750 Mark und die Schwestern den „Rest“ von 2.015 Mark. Auf Anordnung der Eisenbahnverwaltung wurde der Bahnhof dann aber auch Mühlhausen-Oedt genannt und am 1. Oktober 1896 für den Personenverkehr freigegeben.

Die Friedensjahre vor dem 1. Weltkrieg waren für die deuschen Eisenbahnen auch in wirtschaftlichem Sinne "goldene Jahre". Sie erreichten, von keinem Konkurrenten des Landverkehrs bedrängt, in dem Jahrfünft 1885 - 1890 ihr betriebswirtschaftliches Optimum. Im Jahre 1900 erwirtschaftete die preußische Staatsbahn immerhin 6,8 % ihres Anlagekapitals.

Eine noch bedeutendere Rolle als 1870/71 spielten die Eisenbahnen im 1. Weltkrieg. Zwar fehlte angesichts der separatistischen Eisenbahnpolitik einzelner Länder eine zentrale Organisation des deutschen Eisenbahnwesens, dieses Handikap machte sich jedoch zunächst nicht bemerkbar. Erst als sich im Wintedr 1916/17 Koordinationsschwierigkeiten ergaben, errichtete die Oberste Heeresleitung die sogenannte Kriegsbetriebsleitung, das wasr die erste einheitliche Betriebsführung aller Eisenbahnen im Deutschen Reich.

Am 31. Juli 1914 wurde Deutschland in den Kriegszustand versetzt. Dies geschah auch in Lobberich durch die Bekanntmachung des kommandierenden Generals des VIII. Armeekorps. Deutschland folgte dem Beispiel der benachbarten Länder Holland, Belgien und Frankreich und hatte alle Rheinbrücken und sämtliche Bahnhofe an der westlichen Grenze besetzt. Auf Anweisung des Kaisers, so eine weitere Bekanntmachung „sind gegen alle Personen, die bei einem Anschlag gegen die Eisenbahnen auf frischer Tat ertappt werden, auf der Stelle die schärfsten Executionsmaßregeln anzuwenden. Alle irgendwie Verdächtigen sind sofort festzunehmen. 

Die Verkehrsverhältnisse auf den Eisenbahnen erfuhren, wie an allen Orten Deutschlands, zu Anfang des Krieges auch in Lobberich eine vollständige Lahmlegung. Sofort nach Ausbruch des Krieges wurde der Zugverkehr gesperrt und der gesamte Personen- und Güterverkehr eingestellt. Sämtliche Eisenbahnzüge und die Bahnen dienten ausschließlich zur Beförderung von Truppen und Kriegsmaterial. Hierdurch trat eine große Stockung ein und viele Reisenden mussten unterwegs ihr Ziel aufgeben und in Wagen oder Autos die Heimreise antreten. Um dem Reiseverkehr wenigstens in etwa gerecht zu werden, war die Eisenbahnverwaltung bemüht, einige Schnellzüge fahren zu lassen. Es verkehrte lange Zeit hindurch zwischen Kempen – Lobberich – Kaldenkirchen nur morgens und abends ein Personenzug. Da lernten die Leute wieder marschieren, denn andere Transportmittel standen nur Wenigen zur Verfügung. Allmählich regelte sich der Zugverkehr wieder günstiger und es wurden auch wieder Güterzüge, wenn auch nur in sehr beschränktem Maße, eingelegt. Den Angehörigen der Verwundeten und erkrankten Krieger wurden die weitgehendsten Reisevergünstigungen gewährt.

Weil Mangel an männlichem Eisenbahnpersonal bestand, wurde weibliches Personal eingestellt. So sah man an Fahrkartenschaltern, auf Bahnhöfen, an und in den Eisenbahnzügen sowie auch auf den Straßenbahnen Schaffnerinnen in Uniform ihres Amtes walten. Im Juli 1915 wurde eine Bahnsteigsperre für diejenigen, die keinen amtlichen Ausweis über ihre Person besaßen, angeordnet. Auch für den Lobbericher Bahnhof galt die Bahnsteigsperre für die Personen, die keinen amtlichen Ausweis mit sich führten. Damit wurde allen, die sich nicht einwandfrei ausweisen konnten, das Betreten des Bahnhofs verweigert. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1916 wurde die Sommerzeit eingeführt. Die Uhren wurden eine Stunde vorgestellt, so dass die Abendstunde von 11 bis 12 Uhr ausfiel. Diese Neuerung wurde eingeführt, um Geld und Beleuchtungsstoffe zu sparen. Die Sommerzeit endete am 30. September 1916. Dieser Tag umfasste 25 Stunden.

Während im Jahre 1916 die Sommerzeit vom 1. Mai bis zum 30. September dauerte, wurde sie im Jahre 1917 vom 15. April bis 17. September durchgeführt. Sie begann am 16. April, vormittags 3 Uhr und endete am 17. September, vormittags 2 Uhr. Am 18.10.1917 wurden die Fahrpreise für Schnell- und Eilzüge verdoppelt, da sich inzwischen die Geldentwertung bemerkbar machte. Im November 1917 brachte der neue Fahrplan wesentliche Änderungen im Zugverkehr. Für die Folge verkehrten auf der Strecke Kempen – Lobberich – Kaldenkirchen nur zwei Zugpaare und zwar ab Kempen 6:29 h vormittags und 7:42 h abends und ab Kaldenkirchen 7:21 h vormittags und 8:29 h abends.

Am 10. April 1917 wurde folgende Verordnung vom kommandierenden General erlassen:

Verordnung betreffend Verkehr im Bahngebiet

§ 1. Nur Personen, die einen durch die Verordnung vom 10. April 1917, betreffend Ausweiszwang im Grenzgebiet vorgeschriebenen oder zugelassenen Ausweis besitzen, dürfen die Bahnhöfe in dem durch die gleiche Verordnung bezeichneten Grenzstreifen des VII. U.K. betreten oder verlassen.

§ 2. Die Bahnsteige innerhalb des Grenzstreifens zu betreten, ist dort nicht beschäftigten Personen nur gestattet, wenn sie eine Fahrkarte oder einen Fahrtausweis zum Zwecke der Ausführung einer Reise besitzen.

§ 3. Die außerhalb des Grenzstreifens gelegenen Bahnhöfe Borken, Bocholt, Rees, Emmerich, Cleve, Goch, Kevelaer, Geldern und Lobberich zu betreten oder zu verlassen, ist nur solchen Personen gestattet, die einen Paß, Paßersatz oder einen anderen von einer deutschen Behörde ausgestellten Ausweis über ihre Persönlichkeit besitzen. Der Ausweis muß mit einem Lichtbild des Inhabers, dessen eigenhändiger Unterschrift, sowie mit einer amtlichen Bescheinigung darüber versehen sein, daß der Inhaber tatsächlich die durch das Lichtbild dargestellte Person ist und die Unterschrift eigenhändig vollzogen ist.

§ 4. Die §§ 1 und 3 finden auf Militärpersonen in Uniform keine Anwendung.

§ 5. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen in § 1, 2 und 3 werden, sofern nicht nach den allgemeinen Strafgesetzen eine höhere Strafe verwirkt ist, mit Gefängnis bis zu einem Jahre, bei Vorliegen mildernder Umstände mit Haft oder Geldstrafe bis zu 1.500 Mark bestraft. In gleicher Weise wird bestraft, wer 1) mit einem gefälschten oder ihm nicht zustehenden Ausweis die in dieser Verordnung bezeichneten Bahnhöfe betritt, b) seinen Ausweis einer anderen Person zum Zwecke des Betretens dieser Bahnhöfe überläßt. Der Versuch ist strafbar.

§ 6. Die Verordnung tritt mit dem 1. Mai 1917 in Kraft.

Münster, den 10. April 1917

Im Juli 1918 wurde diese Verordnung auf verschiedene Bahnhöfe im Grenzgebiet zu den Niederlanden, Belgien und Frankreich, so auch auf die Bahnhöfe in Breyell, Boisheim, Schier und Amern in unserem Kreisgebiet ausgedehnt. 

Gleich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 7. Dezember 1914 kamen die ersten 110 Verwundeten vom westlichen Kriegsschauplatz (Flandern) mit Lararettzüge auf dem Lobbericher Bahnhof an von wo aus die Verwundeten in das Krankenhaus (70 Betten) und in dem Mitte September 1914 eingerichteten Lazaretts in der Sassenfelder Schule (70 Betten)transportiert wurden. Im September 1916 wurde die Zahl der Betten auf 180 erhöht. Mitte April 1918 wurde im „Klüttermannschen Saal“ – Hotel Köster, Hochstraße (später durch eine V2 zerstört) noch ein Notlazarett von 100 Betten errichtet. Nach Kriegsende erwuchsen den deutschen Eisenbahnen gewaltige Aufgaben durch den Abtransport der Truppen von der Westfront. Zwangsläufig entstand dadurch die Notwendigkeit, Reisen von Zivilpersonen auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken.

Am 20. November 1918 trat daher folgende Verordnung in Kraft:

„Gepäck und Expreßgut wird bis auf weiteres nicht befördert. Militärgepäck unterliegt nicht dieser Sperre. Auch können einzelne, für die Volksernährung besonder wichtige, leicht verderblcihe Produkte, deren Beschaffenheit schnellste Beförderung erfordert, z.B. Hefe, in dringenden Fällen weiterhin als Expreßgut angenommen werden. Als Handgepäck darf von den Reisenden nur ein Stück mitgeführt werden. Fahrkarten einschließlich Bahnsteig- und Automatenkarten sind an Zivilpersonen nur bei Vorlage eines Reise-Erlaubnisscheines zu verausgaben. Erlaubnisscheine dürfen nur in folgenden Fällen ausgefertigt werden:

1.) Für die dringenden Berufsreisen im allgemeinen, öffentlichen Interesse. Als solche gelten z.B. Riesen von und nach den Stellen der Kriegs- oder Volkswirtschaft, wenn eine Anordnung oder Einladung dieser Stellen vorliegt;

2.) Für Reisen auf Grund behördlicher Ladungen und Veranstaltungen;

3.) Für Reisen bei Todesfällen oder schweren Erkrankungen der nächsten Angehörigen (Eltern, Ehegatten, Geschwister und Kinder), was durch ärztliche, von der Polizei beglaubigte Bescheinigung nachzuweisen ist. Von der Vorlage eines Erlaubnisscheines zur Lösung von Fahrkarten sind befreit
a) Arbeiterverkehr auf Rückfahr- und Wochenkarten
b) Berufsverkehr auf Zeitkarten (einschließlich Schülerkarten)
c) Inhaber von Freikarten und Freifahrscheinen

Neue Arbeiter- und Zeitkarten sind nur gegen Abgabe der abgelaufenen Karten zu verabfolgen. Diese sind daher nach Ablauf der Gültigkeit dem Inhaber zwecks Vorlage bei der Lösung der neuen Karten zu belassen. An Reisende, die bisher nicht im Besitze solcher Karten waren, dürfen keine Arbeiter- oder Zeitkarten mehr verausgabt werden. Da bereits vor Veröffentlichung dieser Einschränkungen abgelaufende Arbeiter-, Wochen- und Rückfahrkarten an der Sperre abgegeben worden sind, wird für die Zeit vom 20. Bis 27. November 1918 nachgelassen, daß für die Ausgabe neuer Arbeiterkarten während dieser Zeit die Vorlage des Ausweises zur Erlangung von Arbeiterkarten genügt. Die Ausstellung des Reiseerlaubnisscheines erfolgt durch die Polizeiverwaltung. Reisen nach dem rechtsrheinischen Gebiet sind nur mit besonderem Ausweisschein gestattet. Der Ausweisschein kann nur bei besonderer Dringlichkeit von der Polizeiverwaltung sowie durch die Zentralstelle des Arbeiter- und Soldatenrates in M.Gladbach. Ausgenommen sind der Arbeiterverkehr auf Rückfahr- und Wochenkarten und der Berufsverkehr auf Zeitkarten.

Der verlorene Krieg hatte auch im Eisenbahnwesen seine tiefen Spuren hinterlassen. Die Betriebseinrichtungen waren in einem äußerst desolaten Zustand. Einen negativen Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit der deutschen Eisenbahnen hatte zudem die Personalinflation. Alle aus dem Krieg heimkehrenden Eisenbahner, auch Kriegsversehrte, mussten wieder eingestellt werden, auch wenn ihre Stelle längst anderweitig besetzt war. Dieser Aufblähung des Personals um mehr als die Hälfte stand die Reduktion des Verkehrsaufkommens auf 43 % der Vorkriegszeit gegenüber. Alle ungünstigen Faktoren zusammengenommen bewirkten, dass die Ausgaben fast doppelt so hoch waren wie die Einnahmen und der Eisenbahnhaushalt der Länder 1919 ein Defizit von 4,95 Milliarden Goldmark aufwiese, das bis Ende 1920 noch auf ca. 8 Milliarden anstieg. 1913 hatten die Länderbahnen noch 1 Milliarde Gewinn erwirtschaftet.

Unter diesen Umständen ließ der Widerstand der Länder gegen die Übernahme der Eisenbahn durch das Reich erheblich nach. Schon im Artikel 89 der Weimarer Verfassung von 1919 hatte es geheißen, es sei "Aufgabe des Reiches, die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten". Weiter hieß es im gleichen Artikel: "Die Rechte der Länder, Privateisenbahnen zu erwerben, sind auf Verlangen dem Reiche zu übertragen". Als Termin für die Übergabe aller Länderbahnen an das Reich war in Artikel 171 der 1. April 1921 festgesetzt. Wegen der immer schlechter werdenden Finanzsituation baten die Länder um eine Vorverlegung der Frist um ein Jahr, der entsprechende Staatsvertrag trat so am 1. April 1920 in Kraft. Damit gingen allein in Preußen 34.443 km Staatsbahnnetz auf das Reich über.

Das Reich sollte nach dem Vertrag an die Länder ca. 39 Milliarden Mark Entschädigung zahlen, tatsächlich wurde mangels Masse keine einzige Mark entrichtet. Mit der "Verreichlichung" der Bahn waren die vielen Probleme nicht beseitigt. Die neue Reichsbahn befand sich angesichts der durch die finanzielle Misere, den hohen Reparationsleistungen und der instabilen politischen Lage bestimmten Krisenjahre der jungen Republik bis 1923 in einer äußerst schwierigen Situation. Die deutsche Großindustrie machte sich nun für eine Privatisierung der Reichsbahn stark. Der Reichsverband der Deutschen Industrie machte eine für die Reparationszahlungen dringend benötigte Kredithilfe in Höhe von einer Milliarde Goldmark vom Verkauf der Reichsbahn abhängig, was die Regierung jedoch ablehnte. Die Besetzung des Ruhrgebietes im Jahre 1923 wegen der Nichterfüllung der Reparationspflichten komplizierte die Lage der Deutschen Reichsbahn erneut. Fast 5.400 km der nach dem Krieg ertragreichsten Strecken wurden zunächst von einer interalliierten Feldeisenbahnbehörde und später von der französisch-belgischen Eisenbahnregie (mit Sitz in Mainz) übernommen.

Gegen 3.00 Uhr am 10. Mai 1940 zitterte ein jäher Lichtstrahl zum langsam sich verfärbenden Himmel, und ein starker Explosionsschall rollte donnernd vom Maastal herauf. Die Straßenbrücke von Venlo war in die Luft geflogen. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Holland war von holländischer Seite erkannt worden. Der Zweite Weltkrieg hatte Kaldenkirchen erreicht. Kurz nach 5:30 Uhr hatte in aus Lobberich kommender Sonderzug der Reichsbahn den Bahnhof Kaldenkirchen passiert. Er beförderte einen Stoßtrupp von etwa 100 Mann des III. Bataillons Infanterie-Regiment 234 der benachbarten 56. Infanterie-Division mit einigen Soldaten des 3. Zuges der 6. Grenzwachtkompanie als ortskundige Führer. Der Zug sollte mit dem Stoßtrupp um 5:35 Uhr die deutsche Grenze passieren und versuchen, den Bahnhof Venlo zu durchfahren und bis zu der hinter dem Bahnhof liegenden Maasbrücke vorzudringen. Sodann sollte die Brücke bis zum Eintreffen der Masse des III. Batl. I R 234 gesichert werden. Das Unternehmen misslang. Der Führer des Pioniertrupps, Leutnant Hertel war schon auf der Brücke am Kabel, als die Brücke durch Fernzündung der Holländer hochging.

Während des Zweiten Weltkrieges – insbesondere während der Ardennenoffensive im Winter 1944/45 wurden im Kempener Bahnhof Lokomotiven von den Truppenzügen abgekoppelt und gedreht. Zusätzliche Schiebeloks sorgten dafür, dass die Truppenzüge den Höhenzug zwischen Grefrath und Lobberich überwinden konnten. Die Drehscheibe im Kempener Bahnhof musste bei diesen Aktionen von Hand bedient werden.

 
Bahnhof Lobberich (Foto: C. Bellingrodt)             Bahnhof Lobberich - Gleis 1 (Foto Bongartz)

                                 
                                      Der bekannte Triebwagen der BR 515
                               auf dem Weg von Kaldenkirchen nach Lobberich


Im Jahre 1952 wird der Haltepunkt "de Wittsee" eröffnet.


              Der Fahrplan der Linie 242 b von Kempen nach Kaldenkirchen - weiter bis Venlo (NL)

Ein schweres Unglück traf die Bahnfahrer auf der Strecke Kempen - Kaldenkirchen. Am 7. März 1956 stieß ein mit Schülern vollbesetzter Schienenbus in Kempen-Kamperlings mit einem Lastwagen zusammen. Drei Schüler aus Grefrath, Mülhausen und Kaldenkirchen und der Schienenbusführer starben, viele wurden schwer verletzt. Kurz darauf wurde der Haltepunkt Kempen-Kamperlings eröffnet.
       
           Bahnhof Lobberich - Bahnsteig 1                          Bahnhof Lobberich - Vorplatz


                             
                                   Einfahrt in den Bahnhof Lobberich von
                                    Grefrath kommend (Foto H. Mirbach)



  Schienenbusse“, die „Retter der Nebenbahn“ hier einst als Personenzüge eingesetzt wurden.

                                   
                                           ETA-AKKU-Schienbus BR 515 DB

Nach der Einstellung des Personenzugverkehrs am 22. 5. 1982 (mit vollständigem Rückbau der Bahntrasse bis Grefrath), gab es noch einen florierenden Güterverkehr (auch in Lobberich wurde noch rangiert) zwischen Grefrath und Kaldenkirchen, der jedoch zu Beginn des Jahres 1990 stark eingeschränkt wurde. Meist bedienten Dieselloks der BR 290 wochentags noch zwei Privatanschlüsse am Lobbericher Güterbahnhof sowie hinter dem Grefrather Bahnhof. Diese Aktivitäten endeten auf der Bahnlinie, die zu ihren guten Zeiten einmal Hauptbahn gewesen war und mit der Konkurrenzlinie Viersen – Kaldenkirchen durchaus mithalten konnte, erst mit der endgültigen Stilllegung am 31.12.1999.

                     
                    Die letzte Fahrt von Kempen nach Kaldenkirchen

Das Empfangsgebäude in Lobberich wurde 1976 abgerissen, der Bahnhof in Grefrath - im übrigen baugleich mit dem Lobbericher Bahnhof - wird heute (2010) als Jugendtreff und der Bahnhof Mühlhausen durch Gastronomie genutzt.

    
Abriss der Lobbericher Bahnhofs (Foto Heublein)    Der Grefrather Bahnhof nach Betriebseinstellung

Der letzte Personenzug, der die Strecke zwischen Lobberich und Kaldenkirchen befuhr, war ein Sonderzug, der zu Filmdreharbeiten im Jahre 1991 eingesetzt wurde.

Nach der Stilllegung wurde die Strecke europaweit ausgeschrieben. Anfang 2004 wurden, obwohl es Interessenten zur Streckenübernahme gab, die Schienen auf der alten Strecke entfernt. Nur der Schotter an einigen Stellen erinnert noch an die alten Gleise.

                                
                                 Der alte Bahnübergang Lobberich-Niedieckstraße
                                               nach Demontage der Gleise

                                                      (Foto: Heublein)

Im Sommer 2010 wurde auf der alten Streckenführung ein Radweg (vom alten Haltepunkt De Wittsee bis Grefrath) fertiggestellt.